Integrieren statt sortieren!
Die Aussage „integrieren statt sortieren“ hat seit der Umsetzung der Inklusion an den Schulen in Niedersachsen eine neue Bedeutsamkeit erfahren. Gleichzeitig kennzeichnet sie seit Gründung der ersten Integrierten Gesamtschulen vor mehr als 40 Jahren ein Postulat dieser Schulform, dem sich auch die IGS Bramsche mit dem Motto „Vielfalt verbindet – gemeinsam erfolgreich“ verschrieben hat. Dieses Motto impliziert ein Ziel und wirft die Frage auf, wie das erreicht werden kann. Unter anderem dadurch, dass den Schülerinnen und Schülern Wege aufgezeigt werden, die erfolgreiches Lernen ermöglichen.
Bereits im November 1997 forderte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede über die Zukunft unseres Bildungssystems, die mit dem Titel „Sprengt die Fesseln!“ in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht wurde, beeindruckend „Tabus zu knacken … und falsche Mythen zu beseitigen“.
Eines dieser Mythen ist, dass Noten eine objektive und allgemeingültige Leistungsbeurteilung seien. Dabei wurde durch mehrere Studien bewiesen, dass „unterschiedliche Lehrkräfte dieselbe Leistung nicht zwingend mit derselben Note bewerten und Noten oft Glücksache sind, je nachdem, wie leistungsstark die Mitschülerinnen und Mitschüler sind. Durchschnittlich Begabte haben eine größere Chance auf gute Noten, wenn ihre Mitschüler leistungsschwach sind. Für die Notengebung ist die jeweilige Lerngruppe die Bezugsgröße. Noten bilden somit nicht den objektiven Leistungsstand ab, sondern die Rangfolge innerhalb einer Klasse.
Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Noten als Ausdruck von Leistungen. Es geht nicht darum, Noten zu verteufeln, denn in unserem Bildungssystem sind Noten bedeutsam, weil damit Berechtigungen erworben werden. Sie bescheinigen erworbene Schulabschlüsse, und damit verbunden berechtigen sie zu weiteren Ausbildungsmöglichkeiten. Dies ist eine, aber nicht die alleinige Funktion der Leistungsbeurteilung. Wozu sollen Leistungsbeurteilungen also dann noch dienen? In erster Linie muss die Erkenntnis über den Leistungsstand aufzeigen, was gelungen ist und was noch verbessert werden muss und gleichzeitig aufzeigen, wie etwas besser gemacht werden kann, sodass sich eine positive Entwicklung anbahnt. Es geht also darum, Informationen für die Planung des Unterrichts und für die Steuerung von Lernprozessen zu gewinnen. Dazu gehören Kenntnisse über das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler und darüber, welche Ziele bereits erreicht wurden und welche nicht. Um eigene Lernprozesse steuern zu können, sind die Ermittlung von angewandten Lernstrategien und eine Vermittlung der Qualitätskriterien sinnvoll, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeit selbst beurteilen können. Darüber hinaus dokumentieren Lernentwicklungberichte, was die Schülerinnen und Schüler gelernt haben und über welche Kompetenzen sie verfügen und ermöglichen eine Perspektive auf die nächsten Schritte und Maßnahmen der Förderung. Wenn es also darum geht, Leistungen zu beurteilen, gibt es aussagekräftigere Verfahren, eine Rückmeldung über erbrachte Leistungen und den Leistungsstand zu geben. Die Abschaffung von Noten bedeutet also nicht weniger Leistungsbeurteilung, sondern mehr und vor allem bessere. Wer ausschließlich aufgrund von einer Rückmeldung mittels Noten eine Anstrengung erwartet, lässt die Schülerinnen und Schüler und ihre Erziehungsberechtigten alleine, denn das Einfordern allein zeigt keinem, was zu tun ist, um mögliche Lücken zu schließen und zu erfolgreichen Leistungen zu gelangen. Dazu bedarf es Unterstützung und Gelegenheit, die eine Verbesserung ermöglichen und weshalb sich Anstrengung lohnt. Denn schon Herzog verwies darauf: „Es gibt keine Bildung ohne Anstrengung.“ Diese Leistungsbereitschaft zu fördern, ist eine Kernaufgabe, der sich Schule stellen muss. Noten tragen nicht zwingend dazu bei, im Gegenteil, sie können eine positive Entwicklung auch verhindern.
Ein Artikel von Karin große Holthaus – Didaktische Leiterin der IGS Bramsche